Von Karin Fritscher, Klinikseelsorgerin am Ostalbklinikum Aalen
Liebe Schwestern und Brüder,
10 Gebote der Gelassenheit hat uns Johannes XXIII. hinterlassen. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie gelten „nur für heute“. Da ist nicht die Rede von vielen guten Vorsätzen oder großen Vorhaben – die ja nur zu oft daran scheitern, dass wir uns gar nicht daran wagen, weil sie uns zu überfordern scheinen. „Nur für heute werde ich…“ so fangen alle diese Gebote an. Mir ist das wichtig. Denn das gibt mir die Möglichkeit, mich einzuüben, ohne alles gleich können oder umsetzen zu müssen. Ein Schritt, heute. Morgen vielleicht ein weiterer, aber das ist morgen. Heute: ein Schritt.
Heute will ich mit Ihnen einen Schritt in Richtung „Realismus“ gehen. Das 4. Gebot der Gelassenheit lautet: Nur für heute werde ich mich an die Umstände anpassen, ohne zu verlangen, dass die Umstände sich an meine Wünsche anpassen.
Mich den Umständen anpassen – wenn das immer so leicht wäre; besonders jetzt, da die „Umstände“ so anders sind als sonst. Mit dem Corona-Virus haben sich unsere Umstände gewaltig geändert. Einfach anpassen? Ja, natürlich. Maßgaben ein halten, Abstand halten, sich nicht in Gruppen treffen, zu Hause statt in der Kirche Gottesdienst feiern, und, und, und. Ja, anpassen.
Aber wenn mir die Decke auf den Kopf fällt? Was, wenn ich jemanden zum Trost in den Arm nehmen will? Kann ich wenigstens meine Bibel-teilen-Gruppe weiterlaufen lassen? Ich geh doch eh einkaufen, da könnte ich doch auch die Freundin besuchen.
Nein, bitte nicht.
Anpassen.
Nur heute.
Morgen sehen wir neu und sehen wir weiter.
Für heute kann ich noch Kräfte aufbringen, um mich den Umständen anzupassen – und morgen versuche ich es neu.
Anpassen kann aber auch in eine andere Richtung gehen. Mein Nachbar kann nicht mehr aus dem Haus. Eigentlich sind wir nie so richtig gut miteinander ausgekommen. Aber jetzt passe ich mich an und frage ihn, ob ich beim Einkaufen etwas für ihn mitbringen soll. Meine Arbeitskolleg*innen sind überlastet. Da könnte ich doch auf meinen Urlaub im Moment verzichten und aushelfen.
Für mich heißt das in der Klink etwa auch, dass ich einen Mundschutz trage und ohne telefonische Absprache nicht auf eine Station gehe.
An die Umstände anpassen kann immer zweierlei heißen: etwas tun, was ich sonst nicht tun würde oder etwas lassen, was ich sonst tun würde.
Doch ich möchte nicht bei der jetzigen Corona-Krise stehen bleiben. Ich möchte vielmehr zurückgehen um nach vorn zu schauen. Ja, so paradox das zunächst kleingt, ich möchte zurückschauen und Ihnen ein wenig aus meinem Leben als Klinikseelsorgerin erzählen und was es für mich heißt, mich an die Umstände anzupassen.
Aber ich mache das nicht, um die Vergangenheit hochzuhalten, sondern um der Zukunft willen. Denn ich lebe in der Hoffnung; dass es ein „Danach“ gibt und dass dann vieles wieder sein kann, was jetzt gerade nicht möglich ist. (Das eine oder andere an schlechten Gewohnheiten könnte ich bei der Gelegenheit vielleicht auch einfach Vergangenheit sein lassen.) Ich habe die Hoffnung, dass die Umstände irgendwann wieder so sein werden, dass für mich und für uns ein bisher gewohntes „normales“ Leben wieder möglich sein wird.
Ich sehe es als meinen Auftrag an, die Anwesenheit Gottes in der Klinik und bei den Menschen zu verkünden. Für die Menschen und ihre Anliegen da zu sein und sie wichtig zu nehmen – so wie Jesus zu seiner Zeit die Menschen wichtig genommen hat. Wenn ich in der Klinik unterwegs bin, habe ich in meiner Tasche ein Heft mit Segenssprüchen zum Verschenken und ein Gotteslob. Ich gehe von Zimmer zu Zimmer und als erstes stelle mich vor. Gespräche beginnen dann oft mit: „Ich habe mit der Kirche aber nichts am Hut.!“ In dem Moment passe ich mich an die Umstände an: nicht verkünden, kein Gebet, kein Segen, sondern nur da sein für diesen Menschen jetzt. Ihm nur sagen, dass ich ein offenes Ohr für ihn habe und es dabei nicht um den Glauben gehen muss. Und dann frage, ich ihn, was ihn umtreibt und womit er sich beschäftigt und ob ich irgendwo hilfreich sein kann. Und nur allzu oft gab es dann doch tiefe Gespräche.
Es ist mir aber umgekehrt auch schon begegnet, dass eine Frau zu mir sagt, sie würde jeden Tag den Rosenkranz und ganz bestimmte Gebete beten. Da bekomme ich leicht den Verdacht, dass hier Beziehung zu Gott mit einer Quantität an geleisteten Gebeten verwechselt wird. Aber es ist nicht meine Aufgabe, zu richten oder zu belehren. Ich kann – wenn wir im Gespräch darauf kommen, ein wenig von meiner Überzeugung und meinem Glauben dazulegen, aber ansonsten passe ich mich an und bete mit dieser Frau ihre Gebete und den Rosenkranz, obwohl es vielleicht nicht meine Gebete und meine Worte wären. Aber es ist wichtiger, diese Frau im Gebet mitzutragen und ihr Sicherheit mit ihren gewohnten Gebeten zu geben, als meinem Wunsch nachzugehen, ihr ein Stück Freiheit vom Leistungsdenken beim Beten zu geben.
Da war auch dieser Junge, 14 Jahre alt, der zum einen überzeugt war, besser zu wissen, was für ihn gut ist als seine Eltern, Lehrer*innen und das Jugendamt zusammen. Auch dass sein hoher Alkoholkonsum ein Problem sein könnte, hielt er für völlig aus der Luft gegriffen. Mein erster Gedanke war: „Mein Gott, Kerle, nimm doch mal Vernunft an! Höre mal zu und ziehe wenigstens in Betracht, dass nicht alles falsch oder schlecht ist, was Erwachsene sagen!“. Ich bin dankbar, dass ich diesem Impuls widerstehen konnte. Ich habe mir von ihm viel über seine Lieblingsmusik erzählen lassen, über Visionen und Sehnsüchte, die darin stecken.
Ich habe dann auch noch dem zweiten Impuls widerstanden, ihm sagen zu wollen, dass er etwas tun kann, um etwas von seinen Sehnsüchten wahr werden zu lassen. Irgendwie dachte ich, dass er eh schon die ganze Zeit von allen gesagt bekommt, was er tun oder lassen soll. Da braucht es mich nicht auch noch dazu. Er hat einfach nur über seine Musik geredet – und ich habe zugehört (obwohl mein Wissen über Jugendmusiktrends ziemlich gegen Null geht). Als ich mich verabschiedet habe, fragte er, was ich eigentlich von ihm gewollt hätte. Er hatte gedacht, ich käme um ihm die christlichen Gebote als Maßschnur vor Augen zu stellen und war erstaunt, dass ich ihm gar nichts „aufdrücken“ wollte. Meine „Abstinenz“ davon quittierte er am Ende auch mit einem: „Sie dürfen gern mal wieder vorbeikommen“.
Von jenem Mann möchte ich Ihnen berichten, dem ich auf der Intensivstation begegnet bin. Ich wollte ihm alles Gute wünschen, gute Besserung und Hoffnung machen. Er meinte nur, er stünde vor einer Operation und würde sie wohl nicht überleben. Die guten Wünsche sind geblieben, aber ich musste viel davon zurücknehmen. Auch mit dem Wunsch „gute Besserung“ habe ich mir dann schwergetan. Und Hoffnung – worauf? Auf Überleben oder auf einen gnädigen Tod? An solche „Umstände“ kann ich mich nicht anpassen. Da kann ich nur noch hilflos da sein. Fragen mit aushalten und Schweigen mit aushalten. Und ich kann Gottes Gegenwart ins Wort fassen und seien Segen weitergeben. Im Vertrauen darauf, dass Gott zu seinem Wort steht.
Ein letztes Beispiel möchte ich Ihnen noch erzählen. Dieses Mal „von der anderen Seite“, vom Anfang des Lebens. Ich bin gern auf der Geburtenstation unterwegs. Ich freue mich über die neuen kleinen Menschlein, wünsche ihnen alles Gute für ihren Lebensweg und beglückwünsche die Eltern. Ich frage auch mal nach ihren Sorgen und Nöten, habe aber die Erfahrung gemacht, dass die meisten in den wenigen Tagen nach der Geburt erst einmal nur glücklich sind und ihre möglichen Sorgen ganz weit hintenanstehen. Und die andere Erfahrung, die ich mache ist, dass die wenigsten Eltern etwas von Gott wissen wollen.
Einmal war ich in einem Zimmer mit zwei jungen Familien. Ich habe mich vorgestellt, durfte die Kinder bewundern, habe Floskeln ausgetauscht und alles Gute gewünscht. Und dann, als ich gerade wieder gehen wollte, meinte einer der Väter: „Wenn Sie schon mal da sind, dann segnen Sie doch bitte unser Kind!“ Angenehm überrascht habe ich das Kind spontan in einem freien Gebet gesegnet. Da meinte der andere Vater: „Kann ich das für mein Kind bitte auch haben?“ Und dann durfte ich auch das andere Kind segnen. Das war einer der schönsten Momente bisher für mich in der Klink. Schon für diesen kurzen Moment hat es sich gelohnt, dass ich Klinikseelsorgerin geworden bin. Ganz unerwartet war plötzlich Gott da; fast spürbar anwesend. – Und ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass den Eltern ein Segen wichtig sein könnte und hätte es von mir aus nicht angeboten. Anpassen heißt offen zu sein für das, was gerade auf mich zukommt.
Mich den Umständen anzupassen heißt für mich als Klinikseelsorgerin vor allem, dass ich auf die Menschen und ihre Bedürfnisse achte. Unabhängig von meinem Urteil, das oft genug ein Vorurteil ist. Unabhängig auch von meiner Überzeugung, dass ich einen besseren Weg für mein Gegenüber wüsste. „Es ist, was es ist, sagt die Liebe“ (E. Fried). So ist das vierte Gebot der Gelassenheit für mich täglich bereits Alltag geworden. Ich passe mich den Umständen an und erwarte alles und nichts, wenn ich ein Zimmer betrete. Dann gibt es gelingende Begegnungen.
An die Umstände anpassen heißt für mich also, mich den Menschen anzupassen. Nicht indem ich mich verleugne und ganz außen vorlasse oder indem ich bejahe, was ich innerlich verneine, sondern indem ich für den Moment der Begegnung den anderen ganz wichtig nehme und mit all meinem Sein ganz für ihn da bin.
Karin Fritscher
Klinikseelsorgerin Ostalbklinikum Aalen