Die Kunst der Stunde: Loslassen

Passt perfekt! (medialna via Pixabay)
Einerseits bin ich aus dem Alter raus, in dem man ständig beknackte Freundebücher ausfüllen muss, andererseits bin ich null prominent, so dass mir nicht irgendwelche klugen Fragebögen vorgelegt werden, die sowieso niemand tiefsinniger beantworten kann als Marcel Proust.

Um beides bin ich grundsätzlich sehr dankbar.

Gleichzeitig warte ich sehnsüchtig drauf, dass mir endlich jemand die Frage stellt: Was ist für dich das schönste Gefühl?

Darauf wüsste ich nämlich und ausnahmsweise mal eine Antwort, über die ich keinen Wimpernschlag nachdenken muss:

Das unglaublichste Gefühl der Welt ist der Moment, wenn ein frisch geschlüpftes Baby das erste Mal nach einem Erwachsenenfinger greift. Welch zupackende Kraft da ist! Das ist kein "halt mich fest", sondern ein unüberspürbares: "Ich bin jetzt da!"

Aus diesem "Ich bin jetzt da!" wird bald schon ein "Komm, führ mich!" – vorsichtige Gehversuche auf noch wackeligen Beinen. Und ein "Ich zieh mich an dir hoch!", wenn die Windel den Plumps auf den Boden abgefedert hat.

Und dann... dann kommt plötzlich der Moment der Wahrheit. Die Augen beginnen zu blitzen, der Schalk im Nacken übernimmt das Regiment, und man ahnt: Gleich passiert's. Heldenhaft und todesmutig. Der Griff löst sich. Und tatsächlich: die ersten Schritte auf eigenen Beinen. Ganz ohne fremde Hilfe.

Das Loslassen gehört zum Leben. Ach, was sag ich: Ohne den Mut loszulassen und die Neugier, neues Terrain zu erkunden, kommen wir Menschlein doch nie raus aus dem Bälleparadies.

Und ja, natürlich endet die erste Reise nicht in Santiago oder auf dem Olymp, sondern wieder auf dem Hosenboden. Na und?

Ich wundere mich immer wieder, warum wir Erwachsenen uns so unendlich schwer tun mit dem Loslassen – krampfhaft klammern wir uns an Dinge, die uns daran hindern weiterzukommen. Manchmal sogar Dinge, von denen wir ganz genau wissen, dass sie uns nicht gut tun. Statt Neugier und Aufbruchsstimmung: die Angst vor der Freiheit.

Wie immer ist die Theorie ganz einfach: Angst ist die denkbar ungeeignetste Ratgeberin.

In der Praxis hilft die Inspiration beim Blättern und Schmökern, zum Beispiel hier oder hier gleich mal 46.

Ich habe einen Verdacht. Der Denkfehler ist unsere kategorische Weltsicht: Loslassen – das hat den furchteinflößenden Klang des Endgültigen und der totalen Alternativlosigkeit. Wer loslässt, fürchten wir, stürzt unweigerlich ins Bodenlose.

Das Schönste auf dem Weg zur Cellostunde ist es, wenn Magdalena meine Hand nimmt, einfach so und ganz selbstverständlich. Losgelassen hat sie schon vor vielen Jahren. Wenn wir heute durchs Dorf laufen, Hand in Hand, dann muss ich sie nicht mehr führen, sondern es fühlt sich an wie: "Schön, dass du mit mir gehst."

(Clemens Prokop)