Die Kunst der Stunde: Spielen

sabrina roberjot / CC BY-SA
Ich habe die Geschichte schon einmal erzählt (nämlich hier), aber das macht gar nichts, denn gute Geschichten darf man öfter erzählen, ach was: die muss man mehrmals erzählen.

Vor ein paar Jahren hatte ich das Glück, beruflich nach Pompeji zu reisen. Nein, nicht nach Neapel, sondern tatsächlich in die versunkene Stadt Pompeji.

Dort gibt es ein Haus, an dem führt kein Weg vorbei: Es ist das "Haus des Fauns", benannt nach dem kleinen Faun, der da noch heute (wenn auch als Kopie) tanzt.

Ich liebe diesen Faun. Deshalb setzte ich mich in den Schatten und versuchte, die knipsenden Touristen zu ignorieren. 

Die Luft flirrte und vibrierte vom Schaben der Zikaden, die Magnolien verströmten einen ganz eigenen Duft. Und während ich auf dem Boden saß und den Faun betrachtete, geschah etwas sehr Merkwürdiges.

Der Faun begann tatsächlich zu tanzen. Ich betrachtete ihn nicht mehr. Ich beobachtete ihn beim Spielen und Springen. Plötzlich wurde er ganz und gar lebendig. 

Es konnte nicht anders sein: Es war der Nachmittag eines Fauns, und ich war mitten hineingeraten.

Neugierig wechselte ich den Ort. Und egal wo ich sass, mit meinem Blick veränderte sich auch der Faun, mit jeder neuen Perspektive wurde er ein anderer. Aber das ist ja gerade das Schöne am Spielen: diese magische Fähigkeit, eine andere Person zu sein. Ganz aus sich herauszutreten.

Bei den Kindern kann man das so gut beobachte: wie sie selbstvergessen spielen. Sie vergessen tatsächlich: die Zeit und sich selbst und tauchen ab in eine neue Welt, die nicht weniger wirklich ist als die unsere.

Spielen können, das ist eine göttliche Gabe.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dem Faun zusah bei seinem Spiel. Es müssen Stunden gewesen sein, denn die Sonne senkte sich bereits, und die Farben veränderten sich, die Schatten wurden länger.

Je länger ich saß, desto mehr wuchs meine Verwunderung. Ich schien der einzige zu sein, der im Bannkreis des Fauns gefangen war. Alle anderen kamen, knipsten, liefen weiter. Mir bot sich ein Sammelsurium von quietschbunten Shorts, ausgetretenen Sandalen und staubigen Waden.

Warum, fragte ich mich, merken die alle gar nichts von diesem unglaublichen Schauspiel? Sie schienen wie blind dafür zu sein.

Bis ich dem Geheimnis auf die Spur kam.

Ich sah dem Faun direkt in die Augen. Sie blickten nur auf ihn herab, so wie wir Erwachsenen eben herunterschauen auf Kinder – anstatt in die Knie zu gehen und Augenhöhe zu suchen. Auch das Bild oben ist aus dieser erhöhten Perspektive gemacht, und schon fehlt das Entscheidende, nämlich alles. Der Zauber bleibt verborgen.

In meinen Gedanken klingt das Echo eines Ausspruchs von Pablo Picasso. Ich wünsche mir, dass er wirklich so gefallen ist, aber im Grund ist das nebensächlich. Wichtig ist seine absolute und uneingeschränkte Wahrheit:

Früher habe ich gezeichnet wie Rafael, aber ich brauchte ein ganzes Leben, wieder zeichnen zu lernen wie ein Kind.

Gilt die nicht für uns alle? Seit meinem Tag in Pompeji weiß ich: Um von Faunen und Kindern zu lernen, setzt man sich am besten erst einmal auf den Boden.

(Clemens Prokop)