Die Kunst der Stunde: Yoga

Yoga hat viele praktische Anwendungsbereiche
(via Pixabay)
Um mein doch sehr ambivalentes Verhältnis zu Yoga im Allgemeinen und Besonderen zu schildern, muss ich heute Morgen noch einmal im kollektiven Familiengedächtnis kramen.

Montag war Yogatag, das heißt: die Eltern stöhnten schonmal prophylaktisch über das esoterisch-welterlöste Weisheitsgetue der Lehrerin, packten ihre Matten, und wir Kinder freuten uns auf einen sturmfreien Abend, an dem wir heimlich fernsehen konnten.

Mein Vater freute sich auf den Powernap statt Schlussmeditation. Und das obligatorische Spiegelei "danach". Ich glaube, das war so seine Vorstellung von Yin und Yang, und bis heute bilden in der Familientradition das Spiegelei und Yoga eine untrennbare Einheit.

Mit meiner hochnäsigen Geringschätzung indischer Körperverrenkung lebte ich viele Jahre ganz ausgezeichnet. Bis mich das Karma doch erlegte, und zwar in Form eines kleinen Mannes mit Berliner Schnauze.

Der wieselte hellwach zwischen Canapés und Blubberwasser herum, mit denen der Hoteldirektor in den Berchtesgadener Bergen seine Gäste bei Laune halten wollte, und am Ende des Abends hatte er uns das Versprechen abgeluchst, am nächsten Morgen nicht etwa faul in den Laken zu wühlen, sondern den Sonnenaufgang am Watzmann für seine Yogasession zu nutzen.

Oh, war ich skeptisch! Meine Lust hielt sich in engsten Grenzen. Dass ich dann doch in den Konferenzraum schlumpfte, ist nur meiner guten Erziehung zu verdanken, sich vor einmal gegebenen Zusagen nicht zu drücken.

Immerhin war der Blick ins Bergpanorama überwältigend. "Hier kannst du doch unmöglich eine auch nur halbwegs konzentrierte Konferenz durchführen", schoss es mir noch durch den Kopf.

Der Anblick im Raum selbst war nicht ganz so erhebend. Bei Yoga denke ich – gelernt ist gelernt aus Myriaden von Symbolfotos – automatisch an die Rückenansicht unbeschreiblich schöner Frauen, perfekte Harmonie mit nichts Geringerem als dem Universum ausstrahlend.

Die Realität beruhigte mich. Da waren noch weitere zwangsrekrutierte Ehemänner, so unrasiert wie unausgeschlafen, und bestimmt dachten sie genauso wie ich – manchmal kann ich Gedanken lesen: "Mann, freu ich mich aufs Frühstücksbüffet."

Die nun folgenden zwei Stunden waren die wildeste Veränderung in meinem Leben. Das ging gleich mal gut los: "Sorry, aber bei mir gibt's keine Esoterik", begrüßte der Berliner Meister, und damit hatte er mich schon.

Dann legte er als Vorturner ein Tempo vor, von dem ich nicht mehr sagen könnte, ob es mich zuerst ins Schwitzen oder zuerst an meine Grenzen brachte. Vor allem aber brachte es mich in einen Rhythmus, von dem ich niemals geahnt hätte, wie sehr das zunächst den Körper lockerte und dann den Kopf befreite. Ich schwebte zurück und ließ das Frühstück ausfallen.

Allein für diese Erfahrung hat sich die ganze Reise gelohnt.

Bei Kindern spricht man pädagogisch uptodate von den "Ritualen" die sie unbedingt brauchen. Der moderne Millennial gönnt sich seine Morgenroutinen. Da wird jeder, scheint's mir, nach seiner Façon selig.

Ich wünsche mir für mich Routine-Rituale und Ritual-Routinen. Ich kann mich schonmal zwischendurch zur Entspannung ans Klavier setzen – aber das ist etwas völlig anderes als ein tägliches Üben. Mit dem Laufen über unsere Voralpenhügel verhält es sich ganz ähnlich. An meinem bisschen Hausmittel-Yoga habe ich gelernt, wie wichtig es sein kann, "in Übung" zu sein: Körper und Geist trainiert zu halten, sich um- und neu einzustellen.

Es fällt mir gerade sehr schwer, mit Yoga wieder zurück in diese Routine zu kommen, in die sprichwörtliche "Zone", die ein wundervoller Zustand ist, weil alles ganz leicht scheint und wie automatisch läuft, die Gedanken einschlafen und sich der Atem beruhigt. Statt dessen knirschen die Knochen, ächzen die Bänder, und meine Gedanken sind überall, nur nicht bei mir.

Mit dem Beten, ich weiß es ja eigentlich, ist es nicht anders. Die Übung ist der Schlüssel. Die Regelmäßigkeit. Routine nicht als mechanisches Abhaken, sondern als befreiender Ritus, der Kraft gibt.

Wie wäre es, überlege ich mir und bin begeistert von meinem Einfall, wenn ich mir 40 Tage nähme, es muss ja nicht gleich mit Heuschrecken und wildem Honig in der Wüste sein: Aber 40 Tage, um Schritt für Schritt zurück zu diesen Routinen zu gelangen. Um mir näher zu kommen. Und um Gott näher zu sein.

Ach so, das hätte ich längst schon haben können, noch dazu zweimal in jedem Jahr?

(Clemens Prokop)