Die Kunst der Stunde: Staunen

Menschenjunges, frisch geschlüpft (via Pixabay)
für Rosa Sophia

Es gibt ihn, diesen einen Moment, der die Welt anhält. Alles auf Null stellt. Der jede Lebenserfahrung irrelevant werden und alle Theorie grau verblassen lässt.

Diesen Augenblick, der noch die abgebrühtesten Himmelhunde und Teufelskerle mit fester Hand packt und in dem man nicht mehr machen kann als: still werden und erschöpft staunen.

"Menschenjunges, dies ist dein Planet / hier ist dein Bestimmungsort, kleines Paket", singt der Philosoph. Und ich kann mir den müden Witz an die Adresse der Generation Z wie Zalando sparen, dass hier nun wirklich jede Retoure ausgeschlossen ist.

Die Frage stellt sich erst gar nicht. Denn natürlich sind die eigenen Kinder immer die schönsten, das ist ja klar und muss so sein.

Die Model-Maße, die Außenstehende gewöhnlich auf freudig-geblümten Geburtsanzeigen so mitgeliefert bekommen, bleiben als Rohdaten ja nur dürftige Hinweise auf die wahren Qualitäten: 4200 Gramm auf 54 cm zum Beispiel, Kopfumfang 39 – solche KPI schreien nach Mitleid mit der Mutter.

Das Staunen ist eine Kunst, die wir von allen Kindern wieder lernen können.

Die Neugeborenen zwingen uns zu unserem Glück: bei allem Wissen um Biologie und Entwicklung, von den Bienchen bis zur Entbindung, von der ersten Übelkeit bis zum vollanimierten 3D-Ultraschall ist es dann doch diese Erfahrung, die sich, ganz und gar unbegreiflich, jeder Beschreibung entzieht: ein Wunder.

Die Episode im Lukas-Evanglium ist superknapp – und gerade deshalb an Eindeutigkeit nicht zu toppen:

Man brachte auch kleine Kinder zu ihm, damit er sie berühre. Als die Jünger das sahen, wiesen sie die Leute zurecht. Jesus aber rief die Kinder zu sich und sagte: Lasst die Kinder zu mir kommen und hindert sie nicht daran! Denn solchen wie ihnen gehört das Reich Gottes.

Für alle, die's an diesem Punkt immer noch nicht kapiert haben, gibt es gleich einen Bonus obendrauf, so wichtig ist die Botschaft:

Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.

Wie so oft dreht Jesus den Spieß einfach um. Bildet euch bloß nichts ein auf euer bisschen Verstand. Die Gelehrten, Neunmalklugen und Eingebildeten waren ihm, dem Gebildeten, ja ohnehin immer sehr spezielle Freunde.

Es wäre ja schon unerhört, wenn Jesus die Kinder gleichberechtigt mit den Erwachsenen auf eine Stufe stellen würde.

Aber er geht noch einen gewaltigen Schritt weiter.

Wie so häufig ist er provozierend radikal. Unserer so selbstverständlichen Vorstellung, dass Kinder noch vieles lernen müssen, stellt er die verstörende Idee entgegen, dass wir mit dem Älterwerden keineswegs besser werden, sondern offenbar das Entscheidende verlernen.

Das Wesentliche, diese Lektion hat uns längst der kleine Prinz hinter die Ohren geschrieben, bleibt fürs Auge unsichtbar – zumindest für das Auge der Erwachsenen.

Zum Ausgleich gibt es, Gott bewahre und sei's gedankt, André Heller, der uns zunächst die Fantasie beibrachte und dann auch noch obendrein den "Kontinent des Staunens" verkaufte.

Vielen Dank für gar nichts, Herr Heller. 

Das Staunen lerne ich dann doch lieber von den Kindern. Ihre unerschrockene Neugier wünsche ich mir. Ihre wundervolle Sorglosigkeit, die sich nicht ums Morgen und schon gar nicht ums Übermorgen kümmert. Ihr unendliches Vertrauen, mit dem sie so verschwenderisch sein können. Ihre Neidlosigkeit. Und dass sie die Bosheit noch nicht kennen, auch dieses Geschenk der Unschuld nähme ich gerne.

Ich stolpere noch einmal über den letzten Satz, so wie ihn Lukas aufschreibt: "wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind" – das ist so ein Satz, der wird, je länger man über ihn nachdenkt, desto merkwürdiger.

Es kann ja kein bewusstes Annehmen gemeint sein und schon gar keine geistige Durchdringung. Sondern höchstens ein erstauntes, verspieltes, fröhliches und total selbstverständliches Einlassen auf ein großartiges Versprechen.

In ihrem Staunen sind Kinder frei, wo wir Erwachsenen meist sehr unfrei sind. Frei für das Unerwartete, das Ungeplante, das Ungeahnte.

Frei für all das ganz und gar Unbegreifliche. Die überwältigende Schönheit der Welt. Und die bedingungslose Liebe Gottes.

(Clemens Prokop)