Die Kunst der Stunde: Träumen

Am besten mit Stein unterm Kopf (via Pixabay)
Auf so einen beknackten Spruch muss man erstmal kommen:

"Nicht hupen, Fahrer träumt vom FC Bayern!" – Ich muss zugeben, dass ich trotz heftigster Bemühungen nie so hundertprozentig verstanden habe, wie man um alles in der Welt mit einem solchen Aufkleber durch die Gegend fahren kann.

Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass ich mich damit  gerade selbst ins Aus schieße. Weil mir die Vorstellung so schwer fällt, dies könne ein toller Traum sein. Ist es nicht so: Der FCB fräst sich durch die Saison und am Ende ist der Rekordmeister halt doch wieder am Meistesten?

Gibt's da echt nichts Spannenderes?

Mir scheint, da bleibt der Traum doch auf eklatante Weise unter seinen Möglichkeiten. Ähnlich wie beim sarkastisch hingeworfenen "Träum weiter!" – noch so eine Diskreditierung des Traumes, der überhaupt bei uns erschreckend schlecht beleumundet ist.

Man denke nur an den Traumtänzer. Der ist der sportliche Cousin des Milchmädchens und ein entfernter Verwandter des Hans Guck-in-die-Luft.

Dabei sollten Träume doch etwas Großes sein. Vielleicht sogar so riesengroß wie der Traum des Dr. Martin Luther King.

Mein Lieblingstraum steht im Buch Mose, Jakob träumt ihn unterwegs auf dem Feld, einen Stein statt Kissen unter dem Kopf: "eine Treppe stand auf der Erde, ihre Spitze reichte bis zum Himmel. Und siehe: Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Und siehe, der HERR stand vor ihm und sprach..."

Mich fasziniert, wie der Traum für die Menschen der Bibel eine ganz konkrete Möglichkeit der Gottes-Erkenntnis sein konnte. Natürlich darf man nicht den Fehler machen uns sich das alles vorstellen wie eine frühbiblisches Videokonferenz. Ich denke, auch Menschen damals hatten die Erfahrung, dass es ganz unterschiedliche Träume geben kann, von Quark bis spannend – und manchmal so rätselhaft, dass man einen guten Traumdeuter in der Belegschaft brauchen kann.

Und schon bin ich bei Joseph und seinen Brüdern gelandet, aber dieses Feld  beackere ich heute nicht. Und auch die Parzelle der Psychoanalyse umfahre ich großräumig, genauso wie die Offenbarung des Johannes – die ja ein einziger wilder, im höchsten Maß verwirrender Traum ist.

Anders als seine Evangelisten-Kollegen nutzt Matthäus das Bild des Traumes, um zu beschreiben, wie sich Gottes Wirken ankündigt und wie sich Menschen leiten lassen aus diesem ganz anderen Bewusstsein heraus. Das Träumen bildet bei ihm dabei eine große Klammer von der Ankündigung der Geburt Jesu bis zu seinem Sterben.

Das letzte Beispiel wirkt auf mich wie eine seltsame Parenthese am Rand. Als dramaturgische Pointe wäre sie auch gut verzichtbar.

Während Pontius Pilatus mit seinem Schwadronieren von der Wahrheit gewissermaßen die Urmutter aller Sonntagsreden ausruft, sieht seine Frau ausgerechnet in einem Albtraum kristallklar. Dieser Einschub ist einzig als anekdotische Ausschmückung versteh- und erklärbar – und trotzdem war Matthäus dieser Aspekt so sehr wichtig, um ihn aufzuschreiben.

Manchmal verabrede ich mich abends mit den Kindern, und wir nehmen uns fest vor, uns im Traum zu begegnen. Meistens träumt Leonard aber doch wieder nur von Monstern. Und ich kenne Menschen, die lassen sich bloß ungern von Träumen belästigen. Ihnen ist ein traumloser Schlaf das Liebste. Bevor sie sich im Schlaf quälen lassen, sagen sie, verzichten sie lieber ganz aufs Nachtkino.

Ich selbst bin ganz anders. Ich liebe es zu träumen, auch am hellichten Tag und mit offenen Augen.

Aber ich habe gut reden.

Ich habe das unbezahlbare Glück, mitunter für meine Träumereien bezahlt zu werden. Meistens dann, wenn ich mich in kreativen Prozessen mit großen Musikwerken beschäftige. Oft genug nehme ich meine Assoziationen mit in den Schlaf und spinne sie weiter.

Deshalb liebe ich auch meine verqueren, rauschhaften, manchmal geradezu kubistischen Träume. Und versuche, möglichst viele Fetzen mit in meinen Tag zu retten. Diese nächtlichen Erfindungs-Fragmente, Seelenzustände und Ahnungen finden sich immer wieder in meine Inszenierungen gewebt.

Das ist das Schöne an der Kunst und am Träumen: Nur weil die Bilder nicht "realistisch" sind, sind sie ja nicht weniger real und wahr.

Ich rede mich um Kopf und Kragen. Wer, bitte, soll das verstehen, wenn man das noch nicht im eigenen Kopf erlebt hat?

Viel schöner und genauer, als ich es je beschreiben könnte, hat diese Zwischenwelt Maurice Sendak verstanden – und wir verdanken ihm deshalb das beste Kinderbuch aller Zeiten.

Und sollte doch einmal unverdaulicher nächtlicher Restmüll anfallen, darf sich gerne Michael Endes Traumfresserchen darum kümmern.

(Clemens Prokop)