Die Kunst der Stunde: Schlagfertigkeit

Das wird schon... (via Pixabay)
Ich warte noch immer auf einen aufgeregten Anruf aus dem Kindergarten, denn nach einhelliger Meinung hat Leonard über die Ferien einen Entwicklungsschub hingelegt, der sich gewaschen hat (also der Schub, leider nicht immer der Bub).

"Na, wie wars im Chindsgi", fragte ich das Kind, was ich halt immer frage. Und ich bekam die Antwort, die ich halt immer bekomme:

"Gut."

Weitschweifig geht anders. Warum sind die Kinder nur immer so diskret, sobald man sich für ihre aushäusigen Erfahrungen interessiert?

Aus einer Laune heraus versuchte ich es mit einer Folgefrage, die ich – Ehrenwort! – noch überhaupt nie gestellt habe: "Bist du geschimpft worden?"

"Ein bisschen."

In aller Unschuld erzählt uns der Knilch von frühkindlichen und offenbar erfolgreichen Experimenten. Ich nenne nur die Stichworte Sonne, Holz, Lupe. Es habe auch schon streng gerochen.

Ich versuchte einen staatstragend-stirnrunzelnd-strengen Blick.

"Aber mit Papier wärs noch viel besser gegangen."

Bei so viel Schlagfertigkeit konnte ich nicht anders und musste unwillkürlich losprusten. Ich bin ja dankbar, dass die Jungs so nett waren, nicht gleich den ganzen Kindergarten abzufackeln.

Schlagfertigkeit gilt ja gemeinhin als eine Fähigkeit, die man sich nicht erwerben kann. Entweder man hat sie. Oder halt nicht.

Ich halte das für einen fürchterlichen Irrtum.

Man kann diese Kunst wenigstens trainieren, davon bin ich felsenfest überzeugt. Ach was: Ich weiß es. Ich habe es selbst erlebt. Denn ich hatte das Glück, vom Besten zu lernen.

Mein Freund Klaus, der aus völlig unerfindlichen Gründen in dieser Kolumne bisher noch gar keine Rolle spielt, war, als ich ihn kennenlernte, faszinierend und fürchterlich zugleich. Ein hellwacher Geist, notorisch neugierig, die Gedanken messerscharf, seine Fragen für mich ungewohnt, auf den Punkt, unnachgiebig.

Und schnell. Unglaublich schnell. Er ließ mir keinen Moment, mich in meinem gemächlichen Tempo zurückzulehnen und nach Antworten zu tasten.

Wie könnte ich diese Momente je vergessen: Wir hatten uns in der Pfälzer Weinstube getroffen, und es lag definitiv weder am 3a noch 5-er, dass ich später auf den Münchner Odeonsplatz wankte mit dem dringenden Bedürfnis, mir die Zunge zurück in den Mund zu stopfen.

Bei der nächsten Verabredung ging's schon besser. Und heute, viele Jahre später, für die ich unbeschreiblich dankbar bin, glaube ich: Wir schenken uns nichts mehr. Sobald wir in den verbalen Schlagabtausch gehen, halten sich Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung besser zurück. Da blitzen zwar nicht die Messer, sondern hoffentlich die Gedanken.

Es ist ein vergnügter Wettstreit. Jeder versucht den anderen zu übertrumpfen, noch ein bisschen klüger, witziger, schärfer zu sein. Und vor allem: noch eins drauf zu legen.

Schweigen ist keine Option. Wir sehen uns doch so selten. Und haben keine Zeit für Denkpausen.

"Schlagfertigkeit" hat viel mit dem eigenen Bereitsein zu tun. Mit innerer Spannung. Mit der Lust, sich nicht zurückzulehnen. Sondern sich einzumischen.

Wie bei allen sportlichen Tätigkeiten ist das nur dann anstrengend, wenn man nicht im Training ist.

Schlagfertigkeit braucht Gegner, an denen man wachsen kann. Ein Gegenüber, das einsteckt – so wie man selbst einstecken können muss. Ein schöner Schlagabtausch ist ja kein säbelrasselndes Gemetzel, sondern ein elegantes Gefecht. Je besser man sich kennt und sozusagen eingespielt ist, desto leichter sind die Moves des anderen zu erahnen – und umso wichtiger wird es, immer wieder aus dem Moment heraus neue, überraschende Haken zu schlagen.

Es ist Speed-Schach mit Gedanken-Flicflac.

Natürlich ist es ein wundervolles Gefühl, wenn der andere die Waffen streckt: matt! Aber das Gewinnen ist gar nicht entscheidend. Sondern es geht darum, sich gemeinsam zu freuen über ein gelungenes Spiel.

Schlagfertigkeit ist die Kunst, den Nagel auf den Kopf zu treffen. Schlagfertigkeit ist eine Kunst fürs Leben.

Erstens, weil man von ihr die Fähigkeit zur Selbstironie lernt. Ohne geht's nicht. Ich schone alle anderen ja auch nicht. Denn für eine gute Pointe darf man nicht zimperlich sein.

Schlagfertigkeit ohne Selbstironie ist nichts anderes als Bildungshuberei. Das treffendere Wort, möglicherweise nicht bei allen im Grundwortschatz, wäre: Gscheidmeierei.

Zweitens, weil Schlagfertigkeit zwangsläufig heisst, ständig mit dem Unerwarteten zu rechnen. Und Lust daran zu haben, andere zu überraschen. Es ist die Kunst, manchmal schneller zu schießen als mein Schatten. Es zumindest immer wieder aufs Neue zu versuchen.

Drittens, weil ich mir deshalb kein gedankliches Standby erlauben darf. Es braucht meine ganze Konzentration. Schließlich muss ich gespannt bleiben wie ein Flitzebogen, um noch die kleinsten Minipausen zu nutzen: Irgendwann muss sogar Klaus Luft holen, und das ist dann mein Auftritt.

Einen Moment auf Pause oder unaufmerksam auf Durchzug geschaltet – und ich bin hoffnungslos abgehängt. Game over.

Wohin das führen kann, wurde mir neulich deutlich. Auf dem Rückflug, ich war schon voller Vorfreude auf die Familie, wackelte ich durch die Sicherheitskontrolle, der Herr Inspektor begutachtete mich an diversen Stellen, überprüfte auch den Hosenbund und meinte so nebenbei:

"Na, Ihr Gürtel hat aber auch eher dekorativen Charakter."

Ich war so perplex, dass mir in diesem Moment gar nichts einfiel. Aber nur sehr liebe Menschen dürfen mich sprachlos erleben. Alles andere ergrimmt mich.

Kann es etwas Frustrierenderes geben als eine glorreich versemmelte Gelegenheit zur geistvoll-gegenwärtigen Replik?

Oder, um es mit den trockenen Worten des legendären Apu Nahasapeemapetilon festzuhalten: "Sir, die Chance, sich als Held zu beweisen, ist längst vorbei."

(Clemens Prokop)