Die Kunst der Stunde: Erinnern

Lichterkette, hinreichend entwirrt (via Pixabay)
Es gibt diese Menschen, die haben zu jedem Ereignis in ihrem Leben sofort eine Jahreszahl parat. Ich bewundere das über alle Maßen. Ich habe dann immer den Eindruck, da fädeln sich Erinnerungen auf wie an einer Lichterkette, fein säuberlich und eins nach dem anderen. Ich seufze dann immer und versuche, nicht allzu neidisch zu sein...

...denn bei mir ist das anders. Ziemlich anders. Sobald mich jemand fragt: Wann war das? – fange ich an zu stottern, dann zu rechnen, ich versuche zu rekonstruieren, um schließlich doch zu kapitulieren. Ich hör mich die immer gleichen Satzfragmente brummeln: "Das müsste so um... Ach ich weiß es nicht... muss nachsehen..."

Ich wünschte mir in diesen Momenten, ich könnte in meinen Erinnerungen blättern wie in den Fotoalben meiner Kindheit. Stattdessen liegen sie unsortiert und unbeschriftet, nicht unähnlich der Legokiste unserer Kinder. Und jetzt, beim Drübernachdenken, fällt  mir ein, dass ich es ja nicht einmal schaffe, Lichterketten oder Kopfhörer knuddelfrei zu deponieren. Was habe ich da nicht schon entknäult, geknibbert, gefieselt und leider auch geflucht beim immer wieder vergeblichen Versuch, das Kuddelmuddel zu entwirren?

Seit Jahren nehme ich mir vor: das passiert dir jetzt nicht nochmal.

Wie sollte ich dann meine Erinnerungsfragmente erst sortieren? Es sind zum kleinen Teil nur konkrete Erlebnisse. Häufiger sind es Gefühle, Geräusche, Gerüche. Das Donnern der Flugzeuge im Landeanflug auf München-Riem. Das Hagelprasseln auf dem Hausdach. Der Duft des noch regenfeuchten Waldes. Das letzte Aushauchen eines geliebten Menschen.

Eins führt mich zum anderen. Momente der Freude. Situationen, die mir auch Jahre später noch unendlich peinlich sind. Die mich quälen und auf unbeschreibliche Art schmerzen. Immer wieder reise ich in Gedanken zurück und kann doch nichts ändern. Was geschehen ist, ist geschehen.

Und trotzdem... Es geht ja nicht darum, die Vergangenheit zu beklagen. Sondern um die großartige Frage, wie mich diese Vergangenheit zu dem Menschen formt, der ich heute bin.

Nun ist das menschliche Gehirn keine datenfressende Festplatte, sondern wir wissen mittlerweile ziemlich genau, wie wir Menschen uns immer wieder die Vergangenheit anhand unserer Erinnerungsfragmente rekonstruieren, wie wir sortieren und interpretieren. Auch das: connecting the dots.

Wenn ich schon, denke ich mir, meine nicht immer präsentablen Erinnerungen in einem ausgebeulten, immer schwerer werdenden Rucksack mit mir herumtrage, dann nutze ich doch diese menschliche Fähigkeit: In Gedanken werde ich zum Zeitreisenden zurück in mein jüngeres Ich.

Und bekomme eine zweite Chance, mich mit den missglückten Momenten meines Lebens zu versöhnen.

Nicht, dass davon die Narben verschwinden werden. Aber manchmal gelingt es mir doch, mich nicht immer wieder aufs Neue blutig zu kratzen.

(Clemens Prokop)