Die Kunst der Stunde: Wörter erfinden


Worterfindungsmaschine (via Pixabay)
So ein Gehirn schlägt mitunter ja muntere Kapriolen, deshalb kommt mir pünktlich zum Sommerbeginn der Andere Advent in den Sinn: auch das so ein verschmitzter täglicher Impulsgeber für Perspektivenwechseler und Umdieeckedenker

Vor einigen Jahren purzelten an einem Tag lauter altmodische Wörter aus dem Kalender – ach was sag ich altmodisch, da waren ausgestorbene Museumsstücke dabei, eines schöner als das andere.

"Nasenfahrrad" war darunter, statt Brille. Und mein absolutes Lieblingswort: "Augenstern". Ist das nicht ein überaus wertvolles, schützenswertes Klanggebilde?

Ich liebe solche Wörter. Sie haben einen ganz eigenen Klang. Sie kommen mir vor wie Pretiosen aus dem Secondhand-Laden: Sie sind unzweifelhaft getragen, sie haben schon eine Geschichte mit Menschen, die ich nicht kenne; und trotzdem sind sie viel zu schade, um sie wegzuwerfen. Ob ich ihnen ein neues Leben geben kann?

Meine Freundin Susann – hoffentlich verzeiht sie mir diese Indiskretion! – zieht mich immer wieder mit meinem Wortschatz auf: In dieser Schatz- und Kruschelkiste gibt es wohl Exemplare, für die ich definitiv eine fürchterliche Vorliebe habe. Oder eine besondere Betonung. Oder einen speziellen Unterton.

Sie muss reden! Sie ist nicht nur die weltgrößte Superlativliebhaberin, sondern auch eine Meisterin der Wortschöpfungen. "Hoch pü" sagt sie, wenn ihr "hoch unendlich" zu gering scheint (was häufig der Fall ist). Und der Witz ist: ich mag das, und die Kinder sagen das jetzt auch schon.

Aber meistens sind ja Kinder die begnadesten Worterfinder. Weil sie so unbefangen und unschuldig mit unseren Bedeutungscontainern umgehen.

So wie Leonard neulich. Genervt von meinen tausend digitalen Besprechungen, wollte er wissen, ob endlich Schluss sei mit der ewigen "Teleforenz".

Ich habe mich sofort in das Wort verliebt. Ich finde, es fasst die ganze Absurdität (und letzlich auch Vergeblichkeit) des Vorgangs perfekt in Klang. Seit ich nur noch "Teleforenzen" habe, fühlt sich alles gleich viel leichter und spielerischer an.

Und noch ein Wort hat es angespült; wie Strandgut lag es eines Morgens vor meiner Tür: "entstecken".

Ich war sofort total begeistert. Und habe das neue Wort aufgesammelt.

Susann, mit der ich meine Trophäe gleich teilen wollte, fragte nur: "Entstecken? Was soll denn das nun wieder sein?"

Naja, meinte ich etwas verlegen, entstecken eben – das Gegenteil von verstecken: Ich ent-stecke mich. Mir gefällt das sehr. Was bisher zufällig war, wird plötzlich zum aktiven und  bewussten Vorgang. Noch besser gefällt mir, dass das Wort bei uns eine steile Karriere hingelegt hat: Jetzt ist es schon der Arbeitstitel für ein Projekt.

Meine heutigen Glückszahlen sind: 33, 40, 96, 98, 144 und 149.

Warum gerade diese? In diesen Psalmen ist immer wieder vom "neuen Lied" die Rede – ganz im Gegensatz zur alten Leier.

Dann sollten wir, denke ich, viel häufiger noch mit einem neuen Wort den Anfang machen.

(Clemens Prokop)