Moment mal: Geborgenheit

Verborgen im Wald: eine Kapelle 
Ich weiss, der magische Ort hat hundert Namen. Er ist von Dorf zu Dorf, von Landstrich zu Landstrich verschieden.

Bei uns hieß dieser Ort "Kobi", keine Ahnung warum. Ich habe mich bis heute nicht recht an dieses seltsame Wort gewöhnt. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob man das überhaupt so schreibt.

Beim Fangen und Verstecken war Kobi jener Ort, an dem einem nichts passieren kann. Ein Ort zum Durchatmen, eine kurze Pause, um wieder Kraft zu schöpfen. Einfach ein Ort, an dem man wie unsichtbar wurde und unerreichbar für die Verfolger.

Geschützt. Beschützt.

Ein wundervolles Gefühl: zu wissen, da gibt es einen sicheren Ort.

Wir spielenden Kinder hatten nicht den Hauch einer Ahnung, wie wichtig solche Orte sind, und zwar in jeder Lebenslage und in jedem Lebensalter: einen Ort zu haben, an dem die wilde Welt da draussen keine Rolle spielt.

Geborgenheit gilt als unübersetzbar. Es ist ein Gefühl: der Sicherheit, der Wärme, des Zuhauseseins, der Ruhe. Es sind Momente, in denen ich wieder Kind sein darf: in denen die Eltern Giganten sind, unfasslich alt und unfasslich weise – und hoffentlich unfasslich liebevoll. In denen ich meine Erschöpfung zugeben darf und meine Traurigkeit. In denen ich nichts vorspielen muss, sondern ganz und gar ich sein darf.

Instinktiv haben wir Kinder etwas richtig gemacht, womit sich Erwachsene oft unendlich schwer tun: Wir haben unser eigenes "Kobi" einfach selbst bestimmt. Dieser Ort konnte jeden Tag ein neuer und anderer sein. Wichtig war nur: einmal getroffen, galt die Abmachung fürs ganze Spiel.

Nicht jeder hat das Glück, die Familie als Ort der Geborgenheit zu haben. Wenn ich an quengelige Kinder denke, dann muss ich gestehen: Sie ist's auch für mich nicht an jedem Tag... Manchmal ist es für mich die Kapelle im Wald. Der Platz am Feuer. Die ruhigen Minuten auf dem Fahrrad. Ich bin frei. Und muss diese Orte und Momente nur zu meinem sicheren Hafen bestimmen.

Vor ein paar Jahren wurde "Geborgenheit" zum zweitschönsten Wort der deutschen Sprache gekürt. Es ist ja auch mindestens das zweitschönste Gefühl der Welt.

(Clemens Prokop)