Moment mal: Grenzen ziehen


Bahnhofspoesie
"Wer in Grenzen denkt, ist begrenzt im Denken" hat jemand ganz analog und ohne Rechtschreibkorrektur an den Güterschuppen gesprayt.

Ich fühle mich zurzeit oft an dieses Menetekel erinnert.

Der erste Familienbesuch in Deutschland machte uns die Grenzen wieder bewusst: besetzte Zollhäuschen, argwöhnische Blicke, Militär, abgesperrte Autobahnen... und Kindheitserinnerungen: Ich muss den Jungen mal die übrig gebliebenen Schilling-, Franc- und Lire-Scheine zeigen – ob die sich das halbwegs vorstellen können, wie das damals war?

Ich brauche die Reisefreiheit für meine Arbeit. Und merke beschämt, wie selbstverständlich ich alles genommen habe.

Mein Denken hat sich verändert. Ich verstehe, wie wichtig es sein kann, Grenzen zu ziehen. Gerade in Phasen des Wiederanlaufens, wenn der Rhythmus noch stolpert und das Tempo wackelt.

Ich verstehe es, selbst wenn es zu so absurden Situationen kommt, dass wir im Gottesdienst wie Marsmännlein rumlaufen, während gleichzeitig auf dem Spielplatz gegenüber Halligalli tobt.

Wer für sich selbst klare Grenzen zieht, der signalisiert: Ich weiß, was für mich gut ist. Ich weiß, was ich mir zumuten möchte. Ich weiß, welches Risiko ich eingehen kann.

Das gilt im Sport genauso wie im Umgang mit anderen Menschen. Und ich denke, es ist die Aufgabe des Erwachsenwerdens, diese individuellen Grenzen für sich immer wieder auszuloten und neu zu bestimmen. Es hat viel mit Verantwortung für mich – aber auch meinen Mitmenschen gegenüber – zu tun.

Wenn ich auf Fehlersuche bin, versuche ich, das Problem einzugrenzen. Das führt mich gerade in komplexen Umgebungen auf die richtige Spur. An den wunden Punkt. Zum eigentlichen Kern.

Und plötzlich begreife ich auch meine eigenen Grenzen nicht mehr als Be-Grenzung und unüberwindliche Hürden. Sondern als Leitlinien, an denen entlang ich mich orientieren kann.

(Clemens Prokop)