Die Kunst der Stunde: Wünsche aussprechen

Flaschengeist? (via Pixabay)
Ein halbes Jahr später darf ich die Geschichte ja erzählen: Es war ein Tag vor Heiligabend, und das Mädchen geriet in Panik: "Ich habe ganz vergessen, meinen Wunschzettel zu schreiben!"

Mir lag's auf der Zunge zu sagen: "Mädchen, das kenn ich", hielt aber doch besser meinen Mund. Das erzähle ich ihr später, wie es mir mal ganz genauso ging: Schnell hatte ich noch eine Liste gekritzelt und, mit einem Stein beschwert, auf den Fenstersims gelegt. Adressiert ans Christkind? Ich war alt genug, um nicht wählerisch zu sein, wer denn meine Wünsche erfüllen würde: To whom it may concern.

Ich erinnere mich an diese Episode aus einem doppelten Grund. Erstens der desillusionierend-mitleidlose Kommentar der Mutter: "Das bringt jetzt auch nichts mehr." Und zweitens meine Reaktion darauf: Mir war das nämlich herzlich gleichgültig – mir dämmerte, dass ich gar nicht recht wusste, was ich eigentlich wollte.

Ich war wunschlos. Ein höchst seltsames Gefühl.

Mit dem Wunsch ist das ja überhaupt so eine Sache. Es gibt Menschen, die sind begnadet hemmungslos und hauen ihre Wünsche nur gerade so raus – die wünschen sich dies und das, aber ihre so genannten Wünsche sind nur verkleidete Aufträge, Erwartungen, Ansprüche.

Auf der anderen Seite gibt es Wünsche, die sind keine Wünsche, sondern Träume: unrealistisch, unerfüllbar, unerreichbar. Das sind die Momente, in denen man auf den berühmten Geist aus der Flasche hofft (in solchen Sehnsuchts-Fällen kann es nicht schaden, in 1001 Nacht nachzulesen: Diese Flaschengeister sind ungemütliche Gesellen, irrlichternd irrational, chronisch schlecht gelaunt und generell nicht zimperlich).

Es gibt Wünsche, die sind nur Ablenkungen vom Wesentlichen: meine Yacht, mein Schloss, meine Inselgruppe...

Und dann gibt es diese Wünsche, die auf ewig unausgesprochen bleiben. Der Wunsch vielleicht nach einem lieben Wort, nach einer Umarmung, einem Besuch.
Viele Menschen tun sich schwer, ihre Wünsche auszusprechen. Aus Angst, nicht verstanden, enttäuscht und zurückgestoßen zu werden.

Ist es nicht furchtbar egoistisch, Wünsche auszusprechen? Solche Fragen können sich nur Menschen stellen, die selbst Lichtjahre davon entfernt sind, Egoisten zu sein. Ich habe eine ganze Reihe von lieben Menschen vor meinem geistigen Auge, die unermüdlich anderen ihre Wünsche von den Lippen ablesen – und darüber nie gelernt haben, ihre eigenen Bedürfnisse zu formulieren. Und ihre Hoffnungen und Sehnsüchte anderen mitzuteilen. Oder besser: mit anderen zu teilen.

"Das ist ja hier kein Wunschkonzert!" heisst's, wenn alle wild durcheinander ihre Wünsche anmelden. Als Musiker denke ich mir: Für ein Konzert müssen alle aufeinander hören und sich gut abstimmen. Sonst wird's schief, schräg, schauerlich.

Memo an mich: Ich möchte nicht, dass die Kinder egoverkrüppelte Ich-will-das-und-zwar-sofort-Erpresser werden. Aber ich hoffe inständig, sie lernen, ihre Wunschlisten zu schreiben.

Und zwar rechtzeitig.

(Clemens Prokop)