Nachlese: Die Vorleser II

Schlafende Hunde weckt man nicht.
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Mein Vater ist eine Seele von Mensch. Ein Berufsleben lang war er Lehrer aus Leidenschaft, und seine grosse Weisheit lässt sich in dem einen Satz zusammenfassen: "Wenn du dich dann doch mal aufregst, kannst du hundertprozentig sicher sein, dass sich die Falschen angesprochen fühlen."

Manchmal schickt er noch einen zweiten Satz hinterher, quasi zur Exegese: "Diejenigen, die dich in den Wahnsinn treiben, die merken's noch nichtmal."

Im Englischen gibt es den bildhaften Ausdruck preaching the choir – die wörtliche Übersetzung klingt ein wenig holprig: dem Chor predigen.

Ich finde, man sieht das richtig vor sich, wie der Pfarrer ausgerechnet den Engagierten, Treuen, Aktiven die Leviten liest – die Botschaft mag noch so berechtigt sein, aber hier bahnt sich ein klassisches Beziehungsdrama zwischen Sender und Empfänger an.

Womit ich beim Thema wäre. Neulich machte ich mich lustig über leidenschaftslose Lektoren, und was geschah?

Ausgerechnet diejenigen, die ihre Aufgabe ernst nehmen, fühlten sich angesprochen. Und sehr getroffen.

Ach, hätte ich nur die Weisheit meines Vaters ernster genommen!

Dass ich explizit gar nicht vom Schönenberg sprach, das kam bei manchen ins Gegenteil verkehrt an: Dabei liegt mir nichts ferner, als irgend jemanden zu kritisieren.

Jemanden – und dann ausgerechnet sogar die Engagierten – an den Pranger zu stellen, das verbietet sich. Das ist grob verletzend und unbeschreiblich schlechter Stil. Für alle Härtefälle gibt's die Schnitzelbank.

Was in der Nachlese zu den Vorlesern allerdings auch geschah, ist etwas ganz Wunderbares: dass Gespräche entstehen. Und man feststellt, dass alle – wirklich: alle! – meine geschilderten Erfahrungen durch selbst erlebte Beispiele teilen können.

"Stimmt, jetzt wo du's sagst..." – und plötzlich verstanden wir uns.

Ich habe mir angewöhnt, in allen Lebenslagen eine Arbeits-Hypothese zu befolgen, nämlich folgende Annahme: Gehe immer erst davon aus, dass kein Mensch absichtlich schlecht ist.

Fast immer gibt es viel banalere Erklärungen, Unsicherheit oder mangelnde Führung und tausend andere Möglichkeiten, die ich höchstens ahnen kann. Es hilft mir allerdings sehr, bei anderen nicht immer gleich das Schlimmste zu vermuten.

Und Macken kultiviere ich selbst so viele, dass ich allen Menschen um mich herum ihre eigenen von Herzen gönne.

Ich kann ja trotzdem für mich versuchen, hier und da ein bisschen besser zu werden, Varianten auszuprobieren, Neues dazuzulernen. Weil ich der festen Überzeugung bin, dass ich selbst immer unter meinen Möglichkeiten bleibe. Dass da noch mehr ist, was entdeckt und freigelegt werden möchte.

Raum für Verbesserungen. Luft nach oben. Immer.

Und wenn ich das für mich mit Bestimmheit sagen kann, dass Veränderung möglich ist – vielleicht gilt das auch für die eine oder den anderen um mich herum?

Bayerisch gesagt: A bisserl was geht immer. Und wenn Pfingsten schon das Fest des beherzten Anpackens und mutigen Veränderns ist, dann...

...aber erst einmal nehme ich mir noch einmal die Weisheit meines Vaters zu Herzen.

(Clemens Prokop)