Moment mal: Die Vorleser

Wachhund, aufs Äusserste gespannt
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Der Notar gehört ja mit zu den wunderbarsten Erfindungen überhaupt: Man geht zu ihm, um gegen bescheidene Gebühr vorgelesen zu bekommen.

Ich finde, man sollte sich diesen kleinen Luxus des persönlichen Vorlesenlassens immer wieder gönnen! (Allen, die jetzt einwenden, dass es dafür ja Hörbücher gibt von den tollsten Schauspielern gelesen oder dass man genauso auch Radio hören könne, möchte ich entgegen setzen: Live und in Farbe, das ist doch durch nichts zu ersetzen.)

Ich stelle mir das in etwa so vor: Abends kommt der Notar nach Hause, er lächelt zufrieden über sein Tagwerk, und sagt: "Lass uns feiern, Frau. So schön wie heute habe ich noch nie aus dem Grundbuch gelesen. Du hättest erleben sollen, wie die Meyers mir an den Lippen hingen – gebannt, gefesselt, beglückt. Ich sag dir, sie haben wirklich alles begriffen und verstanden. Dreimal musste ich mich verneigen, so begeistert und dankbar applaudierten sie mir."

Ich finde das total richtig: Wichtige Texte, bei denen es auf jedes Wort ankommt, die muss man unbedingt laut vorlesen. Man muss ihnen einen Stimme geben. Und die geschriebenen Worte als Klang in die Welt setzen. Erst dann werden sie lebendig.

Wir machen das in jedem Gottesdienst, und – ich kann ja nur fürs Bistum Chur sprechen, für den Schönenberg treffen meine Beobachtungen selbstverständlich gar nicht zu: es ist ein Trauerspiel.

Ich bewundere da Buchhalter, die in perfekter Leidenschaftslosigkeit irgendwas runterrattern, um dann auch noch wie nebenbei zu behaupten, es handle sich dabei um das Wort Gottes.

Ich weiss nicht, wie's anderen geht. Ich persönlich empfinde das als dreiste Anmassung.

Soll das etwa Gotteserfahrung sein? Sind das Pfingststürme? Ach was, das ist noch nicht mal ein laues Lüftchen. Nur 'n Pups. Dann noch lieber diesen prätentiös-manierierten Vortragston, der aber auch nur alles loslöst von jeder Lebenswirklichkeit und existenziellen Erfahrung.

Ich mache mit den Kindern ein Spiel. Wir stellen uns vor, dass wir unmittelbar nach einer Lesung einfach mal aufstrecken und ganz unschuldig fragen: "Entschuldigung, könnten Sie bitte kurz nochmal sagen, was Sie eigentlich vorgelesen haben?" – Was würde dann passieren?

Meistens kräuselt die Tochter die Nase, wie das überhaupt nur zwei Menschen auf der Welt können, ihre Augen verengen sich zum grimmigen Schlitz, und sie schüttelt nur leicht den Kopf. Ich verziehe stumm den Mund, und das heisst dann: "Ich glaub's auch nicht, dass wir eine Antwort bekämen."

Nehmt euch in Acht, ihr Vorleser: Ihr kennt weder den Tag noch die Stunde. Aber irgendwann mach ich das. Ich steh auf. Räuspere mich. Und frag einfach mal nach.

Vielleicht frag ich aber auch einfach die anderen Gottesdienst-Besucher.

(Clemens Prokop)

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