Die Kunst der Stunde: Gemeinsam schweigen

ohne Worte (via Pixabay)
Im Grund ist es völlig egal, ob man sich durch den Lateinunterricht quält oder Asterix liest. Entscheidend ist, dass man zur rechten Zeit irre kluge Angebersprüche aus dem Ärmel schütteln kann, zum Beispiel:

Si tacuisses...

Man muss das mit so nem süffisanten Schniefgeräusch durch die Nase seufzen, kombiniert mit leichter Wegwerfbewegung des Kopfes – Brustkorb raus, Kinn nach links oben. Han's Klaffl (der sich aus purer Bosheit mit Apostroph schreibt) lispelt das meisterhaft.

Si tacuisses: Wenn du nur geschwiegen hättest... passt immer, wenn sich jemand um Kopf und Kragen redet und sich damit selbst entlarvt. Der Ausspruch stammt von Boethius, aber natürlich ist der Gedanke, dass Schweigen etwas mit Weisheit zu tun hat, viel älter, er findet sich im Buch Hiob, und wem die ganze Bildungshuberei auf die Nerven geht, der hält es einfach mit dem Volksmund:

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

Im Gegensatz zur Stille, die sich über uns legen kann wie Grabesruhe, Abenddämmerung oder Neuschnee, ist das Schweigen etwas zutiefst Menschliches. Es hat eine ganz eigene Dimension.

Schweigen ist mehr als Stummheit. Schweigen kann etwas sehr Aktives sein. Wer schweigt, ist nicht zu faul zum Sprechen. Sondern schärft seine Sinne und schafft seinen Gedanken Raum.

Schweigen ist Haltung und Zustand.

Wie oft kommt es vor, dass schon alles von allen gesagt ist, und trotzdem ist der Kern eines Problems nicht gelöst: bleiben Zweifel, Ängste und Schmerzen.

Gibt es schönere Freundschaften als jene, die in genau diesen Augenblicken dann ein gemeinsames Schweigen erlauben?

Ich habe immer wieder beobachtet, dass Menschen in der unnatürlichen Stille des Tonstudios unruhig werden. Sie fühlen sich plötzlich überhaupt nicht wohl in ihrer Haut, werden nervös und fahrig. Ihnen fehlt, so scheints, die Luft zum freien Atmen. Und sie versuchen unwillkürlich, sich irgendwo festzuhalten. Der Weg zurück, sobald sich die Tür öffnet, ist für sie wie eine Befreiung.

Wie anders diese Momente, in denen ich schweigen möchte. Das kann eine Kathedrale sein, eine Almwiese, ein Lagerfeuer. Es sind diese Momente, die mich staunen lassen. In denen ich selbst zur Nebensache werde.

Ich vermute, jede und jeder hat da so eigene Zauberorte, die das Schweigen leichter machen.

Schweigen auszuhalten, im gemeinsamen Atmen eine Verbindung zu finden und diese wortlose Verbindung wachsen zu lassen: es ist eine große Kunst, das überhaupt zuzulassen. Viele scheuen sich davor. Denn gemeinsames Schweigen steckt voller Energie, Dynamik und Spannung – und ja, das geht: Man kann im Schweigen einem anderen Menschen Kraft geben.

Die Verführung ist immer wieder groß, ein Schweigen zu ersticken, bevor es sich überhaupt entfalten kann. Das passiert durch ein Räuspern, durch ein unbedachtes Wort genau dann, wenn jedes Wort eines zu viel ist.

Es gibt allerdings eine noch größere Kunst als die des gemeinsamen Schweigens. Nämlich diesen stillen Dialog auch wieder zu beenden. Aufzutauchen aus der Verzauberung und sich dabei nicht von der eigenen Unsicherheit oder Unschlüssigkeit leiten zu lassen.

Ich denke, man sollte das halten wie die Taucher, die sich ganz allmählich erst wieder an die Oberfläche wagen. Je tiefer man abgetaucht war, desto länger wird man dafür brauchen.

Was ist nun das geeignete Wort, um ein Schweigen zu beenden?

Ich fürchte, dieses Zauberwort wird man auf der ganzen Welt nicht finden. Das schönste Ende für jedes Schweigen ist eine Berührung.

(Clemens Prokop)