Die Kunst der Stunde: Die Kirche im Dorf lassen

Nicht im Dorf, trotzdem schön
Obwohl meine herausragend mangelhafte Kompetenz in Sachen Fußball auf diesen Seiten bereits hinreichend geklärt sein dürfte, muss ich abschließend leider doch noch einmal auf das Thema zurückkommen.

Es ist nämlich etwas überaus Schreckliches passiert. Wir wurden Zeugen einer Katastrophe von epischen, wenn nicht gar biblischen Dimensionen.

Bei einem Fußballspiel, das vom Weltrelevanzgeist als exorbitant wichtig eingestuft wurde, muss irgendetwas schief gelaufen sein. Das eine Team gewann wohl deutlich – ach was sage ich, die Fachpresse fasst zusammen und spricht von Beerdigung, Schande, Strafe und Untergang (La Vanguardia); von Schlägerei, Prügel, Demütigung und Dampfwalze (Marca); von angekündigtem Tod und kaltblütigem Mord, und zwar mit aller Häme der Welt (Goal).

Und so geht das weiter: Ouest France entdeckt ein dämonisches Spiel der Sieger, Le Figaro ein Trommelfeuer; Le Monde ein Sprengstoffattentat; La Repubblica eine Torlawine; Corriere della Sera eine Schande; Tuttosport eine Vernichtung.

Noch fehlt die Königin der Stahlhelm-Metaphorik als Schreckschraubendiva des Chores. The Sun überblickt nichts weniger als ein Schlachtfeld: die Verlierer zermalmt und zu blutigem Brei gestampft.

Laut würde ich mich das nie zu sagen trauen, aber im Stillen denke ich mir schon: Geht's auch ne Nummer kleiner? Könnten die Damen und wohl vor allem Herren Kriegsberichterstatter die Kirche mal bitte im Dorf lassen?

Oder, um einen Haken auf das zutreffendere Sprachbild zu schlagen: Ball flach halten!

Die Kirche im Dorf zu lassen, das will ja zunächst heißen: sich nicht von den eigenen Emotionen davontragen zu lassen, sondern realistisch zu bleiben. Insofern: erst einmal kühlen Kopf bewahren.

Aber da gehört noch mehr dazu. Die Kunst, die Kirche im Dorf zu lassen, ist sozusagen die Fortsetzung zum kühlen Kopf. Es ist die Gelassenheit, nicht zu übertreiben. Die Lust am Drama verführt uns manchmal dazu – und plötzlich wird, abrakadabra, eine Bagatelle zur Anekdote. Und, hokuspokus, eine Mücke zum Elefanten.

Ich muss zugeben: Keiner der vielen Erklärungsversuche, wie die Dorfkirche nun zum geflügelten Wort wurde, konnte mich recht überzeugen. Ob das nun die stolzen Prozessionen "mit der Kirche ums Dorf" waren oder die mittelalterliche Pfarrsprengelsituation bei neugegründeten Städten – egal. Ich glaube, das ist auch gar nicht besonders wichtig.

Die Dinge dort belassen, wo sie hingehören und nichts künstlich aufbauschen – dieses Bild leuchtet mir unmittelbar ein, auch wenn wir uns in unserem relativ hochdisruptiv-patchworkigem Zeitalter angewöhnt haben, nicht einmal mehr sicher sagen zu können, wo jetzt eigentlich oben und wo unten ist.

Mir gefällt das Bild, gerade weil der Schönenberg so überhaupt nicht "im Dorf" liegt – genauso wenig wie die Kirche meiner Jugend, wo seit ewigen Zeiten sauber zwischen Markt und Kloster Gars getrennt wurde, auch wenn das natürlich längst ein zusammengemörtelter Klumpatsch ist.

Ich frage mich, inwieweit die Kirche überhaupt noch ins Dorf gehört. Diese Berechtigung hat sie genau genommen nur, solange sie ein lebendiger Ort ist. Ein Ort der Begegnung und des Austauschs. Ein Ort des Lebens und, ja – auch das gehört dazu: des Sterbens.

Keine Trutzburg, sondern ein Kreuzungspunkt von vielen Lebenslinien.

Kein Rückzugsort für Frömmler oder Spinner, sondern ein Platz für Menschen, die mit beiden Beinen im Leben und auf dem Boden der Realität stehen.

Und: ein Ort für die Begegnung mit den wirklich wichtigen Themen des Lebens. Ein Ort für die eigene Begegnung mit Gott.

Je länger ich's bedenke: Die Kirche im Dorf zu lassen, das ist keine kleine Übung. Das ist eine große Anstrengung und Aufgabe. 

Auch der weiteste Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Und vielleicht kann dieser Weg mit der Abrüstung der eigenen Sprache beginnen. Nicht alle Konflikte sind episch. Nicht alle Entscheidungen sind dramatisch.

Oft genug geht es um viel, viel mehr. Nämlich darum, gut und wie erwachsene Menschen miteinander umzugehen. Gerade auch wenn man mal nicht einer Meinung ist.

Und die eigene Fähigkeit zur Wertschätzung kann man vor allem gegenüber jenen Menschen beweisen, die einem nun gerade nicht wahnsinnig sympathisch sind. Soll ja vorkommen.

Armageddon können wir getrost dort lassen, wo der Weltuntergang tatsächlich hingehört und angebracht ist, wo die wildesten Sprachbilder nicht groß und blutrünstig genug sein können, dort wo das wahre Endspiel zwischen Gut und Böse stattfindet und die endgültigen Helden-Epen gedichtet werden.

Nämlich in der Champions League.

(Clemens Prokop)