Die Kunst der Stunde: Vergeben

Beinahe neuwertig (via Pixabay)
Der junge Familienvater polierte mit Hingabe und nackter Heldenbrust die Heckklappe seines selbstfahrenden Schlosses, und in mir meldeten sich sofort alle gesammelten Minderwertigkeitskomplexe.

Nur schnell vorbei hier!

Denn unserem Auto sieht man die Vergangenheit an. Bald 14 Jahre haben ihre Spuren, Kratzer und Schrammen hinterlassen. Wir nennen es in treuer Anhänglichkeit nur "Beule".

Meine Güte, wieviel Lebenszeit habe ich in diesem Wagen abgesessen: Siebeneinhalb Mal hätten wir um die Erde fahren können, und nie ist uns oder anderen irgendwas Schlimmeres passiert. Ist nicht allein das Grund zur dankbaren Freude?

"Man sieht's ihm echt nicht an", sagt Meister Anton in der Werkstatt: "Aber der ist noch erstaunlich in Schuss."

Ich denk an Columbo und Franziskus' Wort von der "verbeulten Kirche". Und an die eigene Zerbeultheit – die so offensichtlich ist wie bei unserem Auto. Die vergangenen Jahrzehnte waren nicht immer Autobahn, sondern Buckelpiste, Steinschlag und rabiater Gegenverkehr.

Ich muss gestehen, es gab auch einige Momente, in denen ich selbst sehr unaufmerksam war, rücksichtslos oder schlichtweg dumm. Da habe ich andere touchiert und, wie sollte es anders sein, immer auch selbst eine Schramme davongetragen.

Hoffentlich sind mir die Menschen, an die ich geraten bin, in den allermeisten Fällen ohne böse Absicht und bisweilen sogar ohne es zu bemerken – hoffentlich sind sie mir nicht auf ewig gram. Hoffentlich können sie mir verzeihen.

Ich weiß, wie schwer das sein kann: nicht aufzurechnen. Vor allem, wenn es sich um alte Rechnungen handelt. Es sind ja nicht immer nur kleine Lackschäden, um im Bild zu bleiben. Es gibt auch im richtigen Leben die fiesen Fenstereinschläger, Reifenschlitzer, Versicherungsbetrüger und Bremsleitungssaboteure.

Und manchmal ist der Motorraum einfach nur wieder Party-Location für die Marder aus der Nachbarschaft. Sie meinen's ja nicht bös, aber...

Was passiert ist, ist passiert. Wir können ausbeulen, vielleicht haben wir Ersatzteile. Aber was auch immer: Ich bin schon lange ein sehr ehemaliger Neuwagen.

Dafür haben wir eine größere Macht. Wir dürfen Schuld erlassen. "Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben...", trägt uns Jesus im Johannes-Evangelium auf.

Dort könnte das so klingen, als hätten wir eine Option: Daumen rauf, Daumen runter, wie es uns gerade gefällt. Das wäre ein grandioses Missverständnis.

Die Botschaft ist nämlich eine ganz andere, die Evangelien sind voll davon: Ihr dürft euch niemals über andere stellen. Und vergebt nicht einmal, nicht zweimal, sondern immer wieder aufs Neue. Fangt damit immer wieder von vorne an.

Ein gewaltiger Auftrag. Eine gewaltige Aufgabe!

Und warum? Im 85. Psalm steckt die Antwort.

Erst wenn ich anderen vergeben kann, werde ich selbst zur Ruhe finden. Ich kann all das Verworrene meiner Beziehungen, das Verkorkste meiner jahrelang geübten Muster vor Gott tragen. Ich muss es nicht auflösen. Ich darf es dort deponieren und stehen lassen – am einzigen Ort, wo auch toxische Altlasten gut aufgehoben sind.

Vergebung ist etwas Wunderbares: Ich nehme den Störungen zwischen uns Menschen die Macht. Es soll nicht mehr schmerzlich zwischen uns stehen.

Ich muss andere Menschen nicht ändern; sie sind selbst für sich verantwortlich. Aber Vergebung wird mich selbst verändern. Immer.

Und dann können Wunden auch heilen.

(Clemens Prokop)