Die Kunst der Stunde: Aufräumen

Sehr übersichtlich (Pixabay)
Menschen, die mich auch nur ein wenig kennen, die werden schon bei der Überschrift herzhaft lachen. Ausgerechnet der Prokop will hier was Schlaues übers Aufräumen schreiben?

Es gibt Menschen mit einer natürlichen Stärke, die ich über alles beneide. Analog zum Grünen Daumen aller männlichen und weiblichen Pötschkes würde ich sie die "Begabung der ordnenden Hand" nennen.

Meine Schwester zum Beispiel. Ein Handgriff hier, ein Handgriff dort. Und schon sieht immer alles so ordentlich aus. Nicht etepetete steril und geschleckt, sondern einfach nur aufgeräumt und ordentlich. Und das mit den Kindern drumherum...

Mich umgeben ein paar Menschen mit dieser wunderlichen Begabung. Seltsamer Weise sind das ausschließlich Frauen. Und wie zum Hohn drapieren sie dann auch noch ein, zwei Blümchen.

Nur um mich zu ärgern!

Immer wenn ich das mit ähnlicher Lässigkeit versuche, so einen Handgriff hier, einen Handgriff da, dann passiert gar nichts. Dann konzentrieren sich die frei herumliegenden Kleinteile nur an anderen Orten. Meine Ordnungsfähigkeit beschränkt sich – wenn ich Glück habe! – auf Häufchenbildung.

Ein frisch bezogenes Hotelzimmer nehme ich innerhalb von zwei Minuten in Beschlag. Meistens schneller. Auf diesem Schlachtfeld liegen eher so meine Begabungen – und sie liegen sehr verstreut. Es ist die leider unordnende Hand.

"Das Genie überblickt das Chaos" – solche Sprüche sind vielleicht Selbsttrost in Teenagertagen. 

Dabei sehne ich mich doch so sehr nach ordentlichen Verhältnissen. Nach einer Küche, die sich von selbst säubert. Nach einem Schreibtisch, der mich morgens anstrahlt, als hätte er frisch die Zähne geputzt.

Wenigstens der Schreibtisch..!

Vom hochverehrten Lyriker und Schriftsteller Reiner Kunze habe ich gelernt, dass aufgeräumte Gedanken aus einem aufgeräumten Schreibtisch heraus entstehen.

Er hat gut reden!

Sein Schreibtisch hat es zu Berühmtheit gebracht, spätestens als ihn die Fotografin Herlinde Koelbl in einer Ausstellung zeigte: aufgeräumter geht nicht. In seiner strengen Leere ist er ein Altar der Askese für jedes unbeschriebene Blatt Papier. Wieviel Überwindung und geistigen Anlauf muss es kosten, in dieser Umgebung einen ersten Gedanken zu Papier zu bringen.

Wenn überhaupt, dann würde ich mich das höchstens mit Bleistift trauen.

Von Heinrich Böll stammt die Beobachtung über Kunzes Prosaband Die wunderbaren Jahre, dass hier keine Zeile zufällig sei. Schon gar nicht überflüssig.

Kein Wunder, bei diesem Schreibtisch.

Die Sehnsucht nach einer Aufgeräumtheit des Denkens ist es, die mich treibt. Deshalb finde ich Unternehmen mit Clean-Desk-Policy zunächst mal nicht besonders attraktiv. Da ist der leere Schreibtisch bloß ein arbeitsökonomisches Instrument. Es gibt also doch einen gewaltigen Unterschied zwischen "leer" und "aufgeräumt".

Aus diesem Grund finde ich auch Marie Kondo ziemlich langweilig und ignoriere ihre Gretchenfrage: "Does ist spark joy?"

Viel lieber halte ich es mit dem absurden Ordnungssinn eines Ursus Wehrli, der uns und aller Welt gezeigt hat, wie man Matisse & Co. aufräumt. Er macht das mit moderner Kunst nicht anders als bei den Pommes aus der Frittenbude.

Plötzlich ordnet sich alles zu einem neuen Bild, ergibt Sinn und Struktur. Sieht ungeheuer ästhetisch aus und zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht.

Das eigentlich Verrückte ist aber noch etwas anderes:

Wenn ich Wehrlis Ordnung betrachte, dann spüre ich die ungeheure Spannung in dieser Aufgeräumtheit. Die Einzelteile, die er so helvetisch akkurat sortiert hat, sie streben zurück an ihren Platz – ich werde den Eindruck nicht los, sie wandern jeden Augenblick los: Weil sie in der Kunst eben doch genau dort hingehören, wo sie von Picasso und Kollegen hingeboren wurden.

Nicht bisschen weiter links, nicht weiter oben. Da gibt es kein "so oder ganz anders", sondern nur ein: exakt so muss es sein. Wahre Kunst duldet nicht die kleinste Abweichung. Das wäre Dilettantismus.

Ach würde mir dieses Kunststück mit meinen eigenen, wild durchwirbelten Gedanken doch genau so gelingen. Ich sortiere sie, unter Aufbietung all meiner Kräfte, nach Größe, Farbe und Form wie Legosteine. Sobald mir dies gelungen sein wird, dann wandern sie, wie von Zauberhand, an den ihnen vorbestimmten Platz.

Und: ergeben Sinn.

(Clemens Prokop)