Die Kunst der Stunde: Jubeln

Wo zwei oder drei... (via Pixabay)
Nachdem ich mich bereits als Fußballexperte von Rang geoutet habe, kann ich mich heute gefahrlos einer Kunst widmen, die zweifellos in den Kernkompetenzbereich eines jeden Fans fällt.

Welch eine Tristesse, all die Bilder sehen zu müssen, in denen einsame Menschen verloren in riesigen Stadien missmutig aufs Spielfeld blickten.

Wie soll man denn da bitte jubeln können? So ein Fußballspiel ist doch kein Festvortrag...

Ich muss zugeben, dass sich mein Leben auch ohne Fußball ganz gut anfühlt. Obwohl ich ja Weltmeisterschaften mag – mein Freund Alexander macht sich dann immer lustig: "Vorrundengucker" nennt er Menschen wie mich, die für die Underdogs mitfiebern und es auch sonst an der gebotenen Ernsthaftigkeit fehlen lassen.

Seit wir in der Schweiz leben, in einem kleinen Ort mit 76 verschiedenen Nationalitäten, weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn immer irgendjemand zu feiern hat. Die Frage ist nur, wer dann siegestrunken mit wehenden Fahnen, quietschenden Reifen, heulenden Motoren und dauerhupend durchs Dorf patrouilliert.

Im Gegensatz zum Triumph, der ja mitunter auch mal ein stiller sein darf, kann es keinen stillen Jubel geben. Der Jubel schreit danach, sich mit anderen zu verbünden. Sobald sich die Spannung löst, dann bricht er sich Bahn.

Das für mich Faszinierendste ist aber, in lauen Sommernächten die Publikumsnester in der Nachbarschaft zu orten. Es ist ja immer die Frage, wer streamt, wer über Satellit guckt. Und während wir noch atemlos einem Ballwechsel folgen, höre ichs von gegenüber genervtes Stöhnen und ein paar Augenblicke aus der anderen Ecke nicht mehr ganz nüchternen Jubel.

Das sind die Momente, in denen das Raum-Zeit-Kontinuum empfindlich gestaucht wird. Plötzlich findet alles gleichzeitig statt zwischen Angriff, versuchter Abwehr und Tor. Und ich kann für einmal kurz in die Zukunft blicken, weil ich erstens weiß: das wird jetzt gleich ein Tor, und zweitens darüber grüble, ob wir nicht immer alle ein wenig unsynchron sind. Und es nur bei der Weltmeisterschaft so deutlich vor Augen geführt bekommen.

Ich kann nichts dafür; die Segnungen des Neuen Geistlichen Liedes haben sich über die Jahrzehnte auch in meinen Gehirnwindungen festgefressen, und deshalb ist meine erste Assoziation mit dem Wort "Jubel" der Liedbeginn: "Singt Gott, jubelt ihm!"

Mich macht das ein wenig melancholisch. Den Jubel haben wir domestiziert und delegiert – wir lassen die Orgel brausen und den Kirchenchor jubeln, zumindest wäre das die Idee. Aber wann war mir selbst zuletzt wirklich nach Jubel zumute, weil sich Spannung in Freude löst und weil die sich unbedingt mitteilen möchte.

Wann war mir zuletzt nach Party im Bewusstsein schönster christlicher Erlösung? Und wann hatte ich diesen Glücksmoment zu merken: Yes, check, es geht nicht nur mir so?

Es gibt einfach zu viele missmutige Runkelrüben.

Dabei durfte ich schon so ziemlich überall auf der Welt wahre Jubel-Künstler erleben. Die mich angesteckt haben. Und die mit ihrer Freude etwas verändert haben. Endlich habe ich eine Möglichkeit, den Ort zu nennen: Das brasilianische Campo Alegre steht ganz oben in meinen Top Ten.

Natürlich bin ich neugierig und sehe mal auf dem Bibleserver nach. 57 Mal wird in der Einheitsübersetzung gejubelt, davon finden sich allein in den Psalmen 17 Stellen. Doch ausgerechnet beim Einzug Jesu nach Jerusalem kommt die Vokabel nicht vor, natürlich wird trotzdem gejubelt – nachgeschlagen bei Johannes: "Da nahmen sie Palmzweige, zogen hinaus, um ihn zu empfangen, und riefen: Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn, der König Israels!"

Dem Münchner im Himmel verdanken wir zwei wichtige Einsichten: Erstens ist der rechte Jubel doch wohl und vor allem eine Typ- und Kulturfrage. Und zweitens lässt sich nicht nach Dienstplan jubeln. Das Herz muss jubeln, sonst zählt's nicht.

Ich wüsste gerne, ob es die Diktatoren dieser Welt genießen können, wenn sie auf Kommando bejubelt werden. Wahrscheinlich, vermute ich, tun sie es sehr wohl – es zeigt ihnen die Macht. Es ist eine sehr armselige Vorstellung.

Jubeln aus freiem Herzen, dafür braucht es gut gelaunte und fröhliche Menschen. Und ich glaube fest daran, dass Kirche als Gemeinschaft der Getauften genau dann ihre Berechtigung behält, wenn sie dafür spielerisch Räume, Gelegenheiten und Anlässe schafft.

Man muss ja nicht alles König und Kaiser Fußball überlassen.

Trotzdem gut, dass gerade alle mit Hochdruck daran arbeiten, das Menschenrecht auf Stadionbesuch wieder herzustellen. Das kann man ja sonst wirklich nicht mit ansehen. Trauerspiele braucht kein Mensch, weder im Stadion noch in der Kirche.

(Clemens Prokop)