Die Kunst der Stunde: Grenzen ignorieren

Laufmaschen im Zaun (via Pixabay)
Die Rückmeldung war so eindeutig, dass ich sie nicht länger ignorieren kann.

Sie lese meine Kolumnen ja durchaus mit wohlwollendem Interesse, schrieb Michaela, die ich deshalb natürlich noch mehr schätze. Aber – und es war ein entschiedenes Aber: Mit "Grenzen ziehen" sei sie so gar nicht einverstanden.

Da rege sich in ihr großer Widerstand.

Was soll ich sagen? Das verstehe ich bestens. Insgeheim hoffe ich doch jeden Tag aufs Neue: Wenn ich schon hartnäckig Verquerdenkereien säe, möchte ich auch ab und zu mal satten Widerspruch ernten dürfen.

Meine Erinnerungen wandern zurück in früheste Kindertage und das Garser Gartenfeld. Unser Weg zum Kindergarten und in die Schule führte über eine schöne große Wiese (die natürlich seit vielen Jahren überbaut ist). Das heißt, gedacht war das natürlich anders, denn am Ende des kleinen Siedlungsweges, der nur den Wohnungszugängen diente, übte ein Maschendrahtzaun seine stolze Funktion des Abgrenzens aus.

Naja, nicht lange.

Dieser Zaun existierte eigentlich immer als eine sich am Boden windende Drahtwulst, niedergetrampelt von unzähligen Kinderfüßen. Als eines Tages der sowieso immer grimmig dreinblickende Bruder Gerhard vom Kloster nebenan den Zaun wieder reparierte, mahnte er uns in respektgebietendem Bairisch: "Wenn ihr das noch einmal macht, dann kriegen eure Eltern die Rechnung!"

Was man sich alles merkt...

Wir waren aber auch schwer beeindruckt, und die Großen nahmen sich vor, von nun nur noch ganz vorsichtig über den Zaun zu steigen.

Am Nachmittag prangte die erste Laufmasche im Zaun, und ein paar Tage später sah alles so aus, als wäre nie etwas geschehen. So blieb's dann auch. Auf die Idee, einen anderen Weg als den Trampelpfad über die Wiese zu nehmen, kam natürlich niemand.

Mein Geistesblitz beim "Grenzen ziehen" war die Überlegung, wie ich Grenzen nicht mehr als Begrenzung wahrnehmen muss, sondern wie ich sie als Leitlinien umdeuten kann. Ein Perspektivenwechsel von genau 90 Grad.

Mir fiel der Gedanke schwer, weil ich anders geprägt bin: Jede Begrenzung bezweifle ich erst einmal. Die lieben Menschen um mich herum können ein langes Lied davon singen, was es heißt, wenn ichs mal wieder ganz genau wissen will. Es gibt keinerlei Grund, damit anzugeben, aber im Übertreiben bin ich eine absolute Naturbegabung.

Der coole Wahlspruch der Mythbusters lässt sich leider nicht so recht ins Deutsche retten. Aber ich liebe diesen Satz, deshalb gehört er unbedingt hierher:


Wer im Physikunterricht aufgepasst hat, der weiß: Ich kann die wunderbare Welt der Schwerkraft noch so sehr in Frage stellen – davon lässt sich die Gravitation nicht die Bohne beeindrucken. Der Apfel fällt auch weiterhin nicht weit vom Stamm.

Trotzdem haben Menschen das Fliegen gelernt, bis zum Mond und wieder zurück. Ein Blick in den Nachthimmel offenbart, was da oben mittlerweile alles rumschwirrt.

Aber es soll heute nicht ums Überwinden von Grenzen gehen.

Das Überwinden lasse ich gerne allen Selbstoptimierern und der angeschlossenen Ratgeberliteratur. Aber das Ignorieren und Infragestellen, das Sich-nicht-abschrecken-lassen von mentalen Verbotsschildern, das ist mein Thema.

Es geht um die eigene Mündigkeit. Um Selbständigkeit. Um Furchtlosigkeit. Um die Neugier auch: Wer sagt, dass ich das nicht darf? Und vor allem: Warum?

Es ist so ein Postkartenspruch für die Pinnwand im Büro: "Alle sagten: das geht nicht! Nur einer wusste das nicht. Und hat's einfach gemacht."

Wie oft habe ich erlebt, dass Grenzen tatsächlich nur im Kopf bestehen – leider nicht nur bei anderen, sondern gerade bei mir. Da klage ich in den schönsten Tönen über das Gefangensein in einem Goldenen Käfig, und wie ich so vergeblich und voller Selbstmitleid an den Gitterstäben rumpicke und feile, habe ich leider keine Zeit, es erst einmal am Türchen zu versuchen um zu sehen, ob es vielleicht ohnehin längst offen steht.

Ist nicht die Angst vor dem Schritt in die Freiheit die fürchterlichste aller Fußfesseln?

Und jetzt wäre eine gute Gelegenheit, mal wieder Tom Hanks in Forrest Gump zu gucken.

(Clemens Prokop)