Die Kunst der Stunde: Grüßen

Herzlich willkommen! (via Pixabay)
Wer, so wie ich neulich, jammert, dass er nicht in seine Zone komme, ist selbst schuld. Also nutzte ich die Gunst der Stunde, zwängte mich in leider kaum getragene Sportklamotten, staubte meine Laufschuhe ab und trabte entlang der reifen Roggenfelder hinunter zum idyllischen Kreßbachsee.

Das Licht der aufgehenden Sonne streifte flach über die Erde und versuchte die vielen Spinnennetze zu kitzeln, die sich zwischen Grashalmen eingehängt hatten und noch von Tau glitzerten. Die Vögel zwitscherten in all jenen Bäumen, die der sehr aktive Biber noch stehengelassen hatte.

Ein Reh sprang mit mir. Ein Hase hoppelte übers Feld. Die Pferde einen Steinwurf weiter standen unbeeindruckt, aber in perfekter Silhouette. Da, eine Blindschleiche!

Mit stolzgeschwellter Athletenbrust und der Leichtfüßigkeit einer Elefantenherde pflügte ich durch die meditative Morgenstimmung, preiste innerlich Gottes Schöpfung und fand mich selbst als Krone dieser Schöpfung, wenn ich das in aller Bescheidenheit so sagen darf, schon ziemlich unwiderstehlich geil.

Umso mehr musste ich mich wundern.

In dieser Menschenleere begegnete mir eine Joggerin, die jetzt, ums diplomatisch auszudrücken, auch nicht ambitionierter war als ich. Ich schnaufte ein "Guten Morgen!", und sie schnaufte an mir vorbei, keinen Meter entfernt, aber sie würdigte mich mit beeindruckender Nichtachtung.

Als wäre ich nicht da.

Das ging Runde für Runde so. Und ich dachte mir: Meine Güte, wenn wir Menschlein es nicht einmal in einer solchen Situation schaffen, wenigstens Blickkontakt aufzunehmen, dann ist uns auch nicht zu helfen.

Man grüßt sich ja meistens nur unter seinesgleichen. Busfahrer grüßt Busfahrerin. Der Biker die Bikerin. Und ein glattgewadelter Rennradler grüßt unter gar keinen Umständen einen Normalo-Radler, den er gerade bergauf mit Minimalabstand erlegt.

Warum das so ist? Ich habe keine Ahnung.

In solchen Momenten verorte ich mich immer als niedere Lebensform. Wenn die eigene Freundlichkeit so ins Nichts verhallt, bleibt bei mir immer ein seltsames Gefühl.

Ich denke an meinen Großvater, der uns beigebracht hat, dass man sich in den Bergen immer grüßt, nicht nur aus gebotener Höflichkeit, sondern weil uns das Unterwegssein am Berg verbindet.

Er hat das nie so ausgesprochen, aber ich bin überzeugt, er empfand Bergwanderungen dankbar als ein Privilieg im Schatten von etwas Größerem. Und so wie es immer eine körperliche Erfahrung ist, war es, vielleicht mehr noch, eine unausgesprochen spirituelle Unternehmung – hin zum Gipfelkreuz.

Dass es eine Kunst sein könnte, Menschen zu grüßen, mit einem Wort, einem Lächeln oder einem Blick nur, das habe ich erst spät verstanden. Auch das ist verknüpft mit unseren eidgenössischen Lebensumständen.

Zufällig leben wir genau an der Grenze im Dorf. Diesseits der Bahnschranke grüßt man sich, ob man sich nun kennt oder nicht, ganz selbstverständlich und meistens ausgesprochen freundlich. Jenseits der Bahnschranke, also vier Meter weiter, würden dieselben Menschen so tun, als wäre man gar nicht da.

Schon verrückt, oder?

Das fröhliche Grüßen ist so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass mir das in Deutschland auch manchmal und automatisch passiert – mir wildfremde Menschen gucken dann sehr irritiert.

Wahrscheinlich halten sie mich für nicht ganz gebacken.

Das Schönste ist für mich der gegenseitige Respekt, der im Gruß zum Ausdruck kommt. Das "Grüezi" gilt einer Person, mehrere Menschen bekommen  ein "Grüezi mitenand". Und das gilt zum Beispiel auch für Mütter mit Maxicosi. Die Kleinsten gehören ganz selbstverständlich dazu.

Mir gefällt das sehr.

Ich war nicht der einzige, der sich zu Beginn des Lockdowns ziemlich wunderte. Urplötzlich grüßten die Menschen auf der Straße nicht mehr! Sie wichen zwar nicht auf, aber sie stierten in den Boden, als könnten sie sich allein durch Blickkontakt anstecken.

Diese seltsame Verkrampfung lockerte sich erst nach ein paar Wochen spürbar. In dieser Zeit hatten "wir Schweizer" auch gelernt, uns nicht immer zwanghaft die Flosse reichen zu müssen (ein für mich großartiger Corona-Nebeneffekt).

Trotzdem bleibt dieser tief inkulturierte Drang nach Berührung.

Unser neuer Nachbar stand vor der Tür, die Kinder hatten ihn schon kennengelernt, und nachdem ich problemlos zwei Monate niemandem mehr die Hand gegeben hatte, ertappten wir uns beide beim freundlichen Händedruck: Da wars natürlich längst zu spät – und wir lachten unsere Verlegenheit weg.

Wie tief verankert der Wunsch ist, jemanden, mit dem man Wand an Wand wohnen wird, auch spüren zu lassen, dass er herzlich willkommen ist.

Aus dem Duden lerne ich, dass unser "grüßen" ursprünglich meinte: "Zum Reden bringen". Ich übersetze das mit "das Eis brechen". Und verstehe noch mehr, dass das Grüßen eine Kunst ist, die wir unter allen Umständen beherrschen sollten.

Bei den mir lieben und vertrauten Menschen fällt das leicht, naja: meistens jedenfalls.

Aber wieviel wichtiger ist das wohl mit Menschen, die nur darauf warten, von mir kennengelernt zu werden? Wieiviel verpasste Chancen sich in meinem Leben wohl angehäuft haben, weil ich zu feige, faul, nachlässig, verklemmt war, fröhlich und unbefangen das Eis zu brechen?

Mit der Joggerin am See werde ich wohl in hundert kalten Wintern kein Wort wechseln. Der Schmerz darüber hält sich in Grenzen. Dafür passierte neulich etwas Zauberhaftes: Ein Kollege hatte sich angekündigt, fünf Jahre oder noch länger hatten wir uns nicht gesehen und auch sonst keinen rechten Kontakt.

Da stand er plötzlich in der Bürotür, wir sagten zunächst gar nichts, aber seine Augen blitzten zur Begrüßung und er grinste: Die Freude über das Wiedersehen war uns allen wohl ins Gesicht geschrieben.

Wir übersprangen alle Förmlichkeiten, gingen gemeinsam zum Alchemisten essen und hatten den wundervollsten Abend, den man sich nur vorstellen kann.

(Clemens Prokop)