Die Kunst der Stunde: Liebesbriefe schreiben


Anfangen ist das Schwerste (via Pixabay)
Mir ist etwas Wunderbares passiert: Ich habe einen Liebesbrief bekommen. Nicht digital mit Küsschenküsschen, sondern so richtig, auf Papier und im Umschlag.

Leonard hat sogar noch eine Briefmarke draufgemalt. Und mit Leuchtstift die orangen Codestreifen des Verteilerzentrums imitiert.

Und drin stand: Für Papa, ich hab dich so lieb, Lot.

Regelmäßige Leser dieses Blogs wundern sich erstens nicht über den, nunja, ungewöhnlichen Kosenamen, sondern wissen auch, dass Liebesbriefe jetzt nicht gerade Leonards Inselbegabung sind.

Viel lieber schiebt er als Postler Steuer-Sachen unter der Tür durch.

Vor vielen, vielen Jahren war ich ein leidenschaftlicher Briefeschreiber. Das war in einer Dinosaurier-Welt, die es natürlich längst nicht mehr gibt: Wenn jemand eine Email-Adresse hatte, war das schon ziemlich fancy, und mein Mobiltelefon stammte erstens von Nokia und war zweitens elegant wie ein Ziegelstein.

Aber ich konnte schreiben. Ich konnte beschreiben. Diese Art des Mit-Teilens lernte ich kennen als eine Möglichkeit, über mich selbst nachzudenken. Manchmal sogar eng beschrieben auf Luftpostpapier, so viel gabs zu sagen. Und heute weiß ich die Briefe, die ich bekam, noch mehr zu schätzen: als Zeit, die mir jemand schenkt. Und zwar ganz und gar exklusiv.

Wie gewaltig anders ist ein Brief verglichen mit einem dutzendfach rausgehauenen Hallihallo-Schnappschussmoment. Das ist dann, denke ich mir, wohl der eigentliche Unterschied zwischen Teilen und Mitteilen.

Ich bin immer  hin und weg, wie liebevoll sich die Cousinen Briefchen hin und her schreiben. Sie könnten ja auch ganz einfach telefonieren, aber nein: Das Papier hat da eine ganz eigene Magie.

Oder wenn meine Freundin Susann Briefe an die Kinder schickt, selbstverständlich immer zwei, nie nur einen. Und die beiden sofort zurück schreiben wollen.

Ganz egal, was genau sie schreiben: Es sind dies alles Liebesbriefe. Briefe, in denen nichts anderes steht als: Es ist so wunderbar, dass es dich gibt!

Mich macht das immer ziemlich verlegen. Weil ich nachrechne, wann ich eigentlich meinen letzten Liebesbrief geschrieben habe. Wann ich mir das letzte Mal bewusst die Stunde gegönnt habe, einem Menschen, dem zu begegnen ich das Glück hatte, zu sagen, wieviel er oder sie mir bedeutet und wie wertvoll er für mich ist – oft genug wertvoll gerade über große Entfernungen, räumliche wie zeitliche.

Ich weiß gar nicht, ob man sich heute, wo man ja am besten per Whatsapp Schluss macht, überhaupt noch Liebesbriefe schreibt. Aber mir geht es ja gar nicht um die romantische Schönschreibübung zum Zweck der Beziehungsanbahnung.

Als Christen haben wir ja ohnehin den Auftrag, unsere Vorstellung von der Liebe viel weiter zu fassen, sozusagen "katholisch", was ja nichts anderes bedeutet als "allumfassend".

Neulich feierten die Schwiegereltern ihre Goldene Hochzeit ein zweites Mal: nach dem Lockdown nun endlich auch mit den Kindern und Enkelkindern. Ist es seltsam, wenn ich mir denke, auch ihnen müsste ich dringend einen Liebesbrief hinterher schicken?

Vielleicht mache ich's aber doch wie der Osterhase und verstecke ein paar kleine Briefchen in der Wohnung, verteilt zwischen Waschküche, Garage, Gewächshaus, Geschirr- und Kühlschrank.

Vielleicht freut es sie ja.

(Clemens Prokop)